beklagt seinen Gemützszustand nach den schrecklichen Erlebnissen in
München. B. sei gezwungen, alles was zu seinem "erhabenen Wohltäter" Wagner Bezug
habe, für sich zu behalten. Offenbart Raff, was er weiter zu tun gedenke. Schildert
auch Verwüstungen, die in München geschehen seien (Wohnungseinrichtungen), die
allerdings wegen einer Verwechslung geschehen seien. Er will in die Jesuitenstadt
zurück gehen [Luzern]. Beklagt auch die Geldverluste, die er in München erlitten
habe. Bülow sei musik- und zukunftsmüde. Der Schwiegervater [Liszt] habe kein
Verständnis. Hat keine Lust über den Atlantik zu reisen und will nur Geld verdienen,
damit er nach Italien reisen könne. Berichtet von Tausig und Draeseke. Sehnt sich
nach einer Partitur von Raff. Bezieht sich auch auf die Vaterlandssymphonie und stört
sich ob der Aufführung durch das Militärorchester.
Verehrter freund!
Du hast lange nichts von mir gehört – aus triftigem Grunde. Ich selbst wusste eine Zeitlang wenig von mir: erst nach einer ziemlichen Pause bin ich zu einiger Selbstbesinnung gelangt. Die entsetzlichen Erlebnisse in München hatten mich vollkommen zu Boden geschlagen. Erlaube mir davon zu schweigen: Ich gerathe in eine unsinnige Aufregung, sobald ich daran zurückdenke, davon spreche: darüber schreiben ist noch viel qualvoller. Und dann wäre es schwierig, einem Anderen die Situation begreiflich zu machen; man müßte eine Broschüre abfassen. Ich habe den erklärlichen Wunsch, zu vergessen, werde also nichts darüber aufzeichnen. Ausserdem zwingt mich meine „Stellung“ als „ami de Wagner“ Alles das, was auf seinen „erhabenen Wohlthäter“ Bezug hat, für mich zu behalten. Bei solcher Discretion würde mein Referat Lücken empfangen, welche für einen Dritten gänzliche Unverständlichkeit zur Folge haben würden.
Damit ich jedoch nicht vor der Zeit bei Dir in Verschollenheit gerathe, will ich Dir in Kürze „offenbaren“ was ich von nun ab zu thun gedenke. äMein Entschluß ist: München und das deutsche Vaterland überhaupt zu verlassen. Nach Berlin kann und mag ich nicht zurückkehren – aus allerlei ziemlich erwogenen Gründen. Zu irgend einer Niederlaßung in einer andren deutschen Stadt bietet sich mir kein Anlaß.
Ich gedenke mir also im nächsten Winter eine italiänische Stadt (wahrscheinlich Mailand) auszuwählen, wo das Leben nicht zu kostspielig ist und ich als Klavierlehrer eine anständige Praxis erwerben kann. Du siehst – Ambition habe ich nicht mehr, sondern nur den Wunsch nach Ungeschorenheit in bescheidener Existenz. Bei dieser Explorationsreise kann ich natürlich Frau und Kinder nicht betheiligen. Die muß ich also vorerst in München bleiben laßen.å Binnen wenig Tagen reisen wir von hier, wo wir über zwei Monate lang Wagners Asyl genoßen haben, nach der Jesuitenstadt zurück. Was mich einstweilen am meisten bedrückt und bedrängt ist die Sorge, ob ich meine Frau allein ohne Gefahr für Leben, Eigenthum u. s. w. daselbst zurücklaßen kann. Hiervon will ich mich zunächst zu überzeugen suchen. (Anfang Juni hat ein Namensvetter von mir aus Meklenburg, der sich eben in M. niedergelaßen durch Verwechslung mit meiner Wenigkeit das Vergnügen gehabt eine Pöbelrotte bei sich eindringen zu sehen, die Fenster eingeworfen und verschiedene Möbel zertrümmert zu erhalten: erst nachdem der Irrthum aufgeklärt worden, sind die Bavaren abgezogen. – Herr v. Bülow aus Meklenburg hat sich in Folge dieser Erfahrung einen andren Wohnsitz ausgewählt.)
Nach dem unglücklichen Besuch des Königs bei Wagner hatte ich den Vorzug zugleich als „ami du favori“ und als „Prüss“ malträtirt zu werden. Ausserdem hatte meine Frau das Verbrechen begangen 44 kgl. Briefe zu empfangen und im Laufe der Zeit zu beantworten. Die Herren Pfordten, Pfistermeister u. s. w. (nun, wie in Baiern regiert wird, liegt ja aller Welt jetzt klar vor Augen) brauchten „Sündenböcke“; nach W’s Entfernung wurde uns ungefragt diese Rolle übertragen.
Es ist mir immer noch sehr zweifelhaft, ob wir nicht genöthigt sein werden, unsere ganze Einrichtung unvorbereitet zu verschleudern und – wohin, sagt vielleicht das mir noch unbekannte Intelligenzcomptoir – uns eiligst aus dem Staube zu machen.
Du siehst – ich spreche mich nichts weniger als pathetisch aus, sondern mit einer gewissen Trockenheit. Ja ich nehme jetzt die Dinge noch weniger tragisch als sie sind. Das einzige Fatale sind die beträchtlichen Geldverluste, die mir die Münchner Episode in meinem Leben zugezogen hat. Aber der Entsagungsentschluß ist ein positiver Erwerb. Ich bin musikmüde, zukunftsmüde, namentlich aber gegenwartsmüde: ich will mich beschränken, obscur werden (das wird schneller gehen als mit der Berühmtheit) und unter einem andren Himmel möglichst unbehelligt weiter leben. „Voilà.“ Mein Schwiegervater will hiervon nichts wissen; aber da er keine Einsicht in die Verhältniße hat, ich ihn übrigens nicht incommodiren werde, so werde ich auch gegen seine Zustimmung mein Vorhaben ausführen.
An eine Möglichkeit des Verbleibens in München, an eine Besserung der dortigen Verhältnisse ist leider gar nicht zu denken: in diesen Tagen haben wir noch einen schrecklich zuverläßigen Beweis dafür erhalten durch den Besuch u. Bericht eines Flügeladjutanten (Fürsten Torre e Tasso).
So stehen die Dinge. ä„Ich bitte um stille Theilnahme“. Wenn Du zufällig eine Verbindung mit Florenz oder Mailand hättest, mir einen Empfehlungsbrief dahin verschaffen könntest, so würde mich das natürlich sehr freuen und dankbar stimmen.
Da ich doch anfange zu sehen, daß mir noch der erforderliche Humor fehlt, um einen lesbaren Brief zu schreiben, so lege ich einige Papierschnitzel bei, die ich gerade bei der Hand habe. Der eine reizende kleine Artikel ist aus dem offiziösen Blatte, gegen das ich geklagt und nochmals (in zweiter Instanz) zu prozeßiren habe.
Halt – da hätte ich beinahe etwas vergeßen. Vor dem italiänischen Experimente suche ich noch nach einem Anknüpfungspunkte mit Amerika. Brendel wird mit Schuberth, der diese Tage von New York nach Leipzig kommt, in meinem Namen reden, von ihm sich berichten laßen. Strakosch traue ich ganz und gar nicht: Ullmann scheint die Lust (weil sehr viel Geld) zu weiteren Cornac -Entreprisen verloren zu haben. å
Ich kann nicht sagen, daß ich mir besonderer Wollust an eine transatlantische Expedition denke: ich würde dieselbe nur als ein vorbereitendes Geschäft, als das Mittel zur Deckung der Übersiedlungskosten nach Italien betrachten. Diese Rücksicht wird meinen Eckel vor der Virtuosen nomaderie überwinden helfen.
Seit 8 Juni ist RW ungeheuer fleissig. Ende dieses Monats wird er den 2 Akt der Meistersinger fertig componirt haben – das Instrumentiren, oder vielmehr in-Partitur-Setzen geht ihm sehr leicht von der Feder. äHat er den Winter Ruhe, kann er seine Villa heizbar machen laßen u. s. w. so darf die Vollendung des Ganzen in Jahresfrist als sicher angenommen werden. å Mir will es scheinen, als ob dieses Werk den Gipfelpunkt seines Genie’s darstellt: es ist unglaublich frisch, plastisch, noch reicher im musikalischen Detail als der Tristan: ich verspreche mir eine zündende Wirkung im nationalsten Sinne davon. Schade, daß ich es nicht zu hören bekommen werde! Denn bin ich einmal „ultra montes“, so werde ich sogar versuchen, mein geliebtes Deutsch zu verlernen.
Tausig hat die Ouvertüre 4händig leider recht schlecht arrangirt, während sein ditto Walkürenritt ihm so gut gelungen ist. äIch habe ein zweihändiges Arrangement gemacht, das sich sehen und spielen läßt und will Schott auch ein neues vierhändiges anbieten. å
Dräseke war während einer Woche hier auf Besuch. Ein Fragment aus dem Requiem „Lacrymosa“, das er mir gezeigt, ist sehr human und sehr schön, würde sicher Deinen Beifall finden. äLeider geht es mit des Armen Gehör immer schlimmer, binnen 1 oder 2 Jahr wird er ganz taub sein.å Er kehrt 1 September nach Lausanne in seine feste Stellung als Klavierlehrer zurück. Ich wollte – gern mit ihm tauschen.
äMeine Frau und Kinder befinden sich Dank dem schönen Asyl, das uns Wagners Gastfreundschaft geboten, ziemlich leidlich. Nur die kalten regnerischen Tage seit Anfang August stören ein wenig.
Wie geht es Dir, Deiner verehrten Frau und der nun schon wohl verständlich lallenden Kleinen? Hoffentlich hat Dich die Biebericher Pulverexplosion nicht allzusehr in der Arbeit gestört. å Wann wird für mich doch die Zeit wiederkommen, wo ich mich nach einer Partitur von Dir sehnen kann und die Nase mit etwas Behaglichkeit hineinstecken? Bist Du selbst nicht einigermaaßen von der furchtbaren Execution des vierten Satzes deiner Vaterlandssinfonie durch das große Militärorchester affizirt? Und wie lange spielt dieser Satz! Erst heute ertönt zum ersten Male das Rheinufer thema – aber statt des Arndtschen Liedes wird das Neithardtsche („ich bin ein Pr. “) dazu contrapunktirt. Der zweite Theil des fünften Satzes dürfte vielleicht erst nach Deinem Tode zur Aufführung kommen.
äSei so gut und schreibe mir ein paar Zeilen nach München, wo ich Ende dieser Woche, spätestens am 20sten eintreffen werde. Vor 1 October werde ich kaum von dort abreisen können; vermuthlich gehe ich nach „Mailand“, wohin mir ein eben erhaltener Brief Carl Ritter’s am meisten zuräth.
Einstweilen Gott befohlen.
In alter Anhänglichkeit
Dein ganz ergebener
Landhaus Triebschen Bülow.
bei Luzern. 12 Aug. 1866.
(In München wie früher: Luitpoldstraße 15.)å